Nachruf von Robert Weimann
Am 4. März 1992 starb Martin Lehnert, langjähriger Präsident und seit 1985 Ehrenpräsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, Weimar. Vorstand und Mitgliedschaft der Weimarer Gesellschaft beklagen den Verlust eines unermüdlich tätigen Gelehrten und Hochschullehrers, der weit über die Weimarer Shakespeare-Pflege hinaus die Anglistik im Rahmen der ehemaligen DDR förderte und repräsentierte. Mehr widerstrebend als willentlich in die Spaltung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft verstrickt, hat er in späteren Jahren vieles in seiner Macht Liegende getan, um den Schaden zu begrenzen, die positiven und sachlichen Voraussetzungen der Weimarer Arbeit zu mehren und auf persönlicher Ebene die Kontakte zwischen Ost und West nicht abreißen zu lassen. Das alles fügte sich ein in ein Lebenswerk, das nach 1945 dem Neuaufbau der Anglistik gewidmet war und damit im heutigen Ostdeutschland überhaupt erst wichtige Voraussetzungen schuf, auf denen sich fachwissenschaftliches Arbeiten neu orientieren und institutionalisieren konnte. Dieses wissenschaftliche und zugleich öffentliche Wirken, das dann 1963 zu seiner Wahl zum Präsidenten der Shakespeare-Gesellschaft in Weimar führte, war Martin Lehnert nicht in die Wiege gelegt. 1910 als Sohn einer Tischlerfamilie in Berlin-Neukölln geboren, hatte er zwischen 1930 und 1936 ein neusprachliches Studium an der Berliner Universität absolviert. Bereits 1936 mit Lehrtätigkeit am dortigen Englischen Seminar beauftragt, wurde er nach Wahrnehmung einer Professur in Greifswald (1948-1951) bereits 1951 an die Humboldt-Universität berufen, wo er als Inhaber des Lehrstuhls für Anglistik mehrjährige Arbeitskreise für englische Sprachwissenschaft und für die Ausbildung anglistischen Nachwuchses im gesamten Lande leitete. Institutsdirektor, Fachrichtungsleiter und schließlich Dekan (1957-1961), wurde er alsbald ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften (1961).
So war das geistige Profil unseres Ehrenpräsidenten alles, nur nicht fachspezifisch borniert. Bemerkenswert die Vorstöße des Philologen in das Grenzgebiet zwischen Sprach- und Literaturgeschichte: Schon 1954 hatte er die zweite Auflage von Paul Meißners Göschenband über Shakespeare herausgebracht, dann 1963 über „Shakespeares Sprache und wir“, über „Shakespeares Gestaltungsprinzipien“ (1975), schließlich über „Shakespeare in der Sprache unserer Zeit (1978) gehandelt. Auch hierin galt sein wissenschaftliches Engagement der kritischen Arbeit am Erbe der historischen Philologie, wie er sie unter dem programmatischen Titel Laut und Leben (1954) mit der Herausgabe und Bearbeitung des nachgelassenen Manuskripts seines Lehrers Wilhelm Horn weiter verfolgte.
Dieses wissenschaftliche Werk, das dann in Arbeiten zur Lexikologie und in eindrucksvoll gestalteten Ausgaben mittelalterlicher englischer Dichtungen – zweisprachig und in eigener Übersetzung – gipfelte, bot dem langjährigen Präsidenten Rückhalt und Refugium genug, um in Weimar allem kultur-politischen Gehabe gelassen und mit gehörigem Abstand zu begegnen. Fern allen theoretischen Kontroversen bot sein Wirken einen eigentümlichen Ruhepunkt, der dem zu bewahrenden Erbe William Shakespeares zugute kam. Auf Seiten Martin Lehnerts stand dahinter niemals ein kühles Unbeteiligtsein: Die Arbeit in Weimar und die Verbindung mit Stratford-upon-Avon waren ihm Herzenssache. Auch und nicht zuletzt in dem hochherzigen Sinne, dass unser Ehrenpräsident eine Schenkung zur Förderung studentischer Shakespeare-Arbeiten hinterlässt, die uns ins Zukünftige begleiten darf und auch damit seinen Namen unter uns lebendig halten wird.
(Beitrag aus dem Shakespeare-Jahrbuch 1993, S.330-331)