Shakespeare Jahrbuch 2023
ODYSSEEN: EINLEITUNG
Shakespeare hatte Homers Werke nie direkt rezipiert, doch evozieren viele seiner Stücke und Gedichte eine homerische Welt. In diese Welt und ihre anachronistische Präsenz in Shakespeares Stücken führt der Beitrag von Anselm Haverkamp ein. Homer fungiert hier als eine historische Bezugsgröße sowohl für ästhetische Standards wie auch für ein historisches Bewusstsein überhaupt, was Shakespeares eigenes Werk zum Ausgangspunkt einer ästhetisch differenzierten Historizität macht. Auch Wolfram Kellers Beitrag stellt die Erfahrung von Zeit in den Mittelpunkt: Mit Cressida und Bottom schafft Shakespeare Figuren, die sich den fortschrittsteleologischen Narrativen in Troilus and Cressida und A Midsummer Night’s Dream entziehen, wobei die ‘temporalen Odysseen’ in diesen Stücken alternative Handlungsspielräume eröffnen. Lalitha Sarma R nimmt die Figur der Cressida aus feministischer Perspektive in den Blick und wirft die Frage auf, wie sich deren vermeintliche Unterwürfigkeit – in ihrer Selbstverleugnung und ihrem Verzicht auf eine Stimme – paradoxerweise als Quelle weiblicher Handlungsfähigkeit herausstellen. Mit Gretchen Mintons Beitrag werden Shakespeares Dramen selbst zu Protagonisten einer Odyssee. Minton rekonstruiert die Rolle Shakespeares als kulturelle Ikone bei der Besiedlung der American Frontier im 19. Jahrhundert, wobei das beredte Schweigen indigener Stimmen in den Archiven Aufschluss gibt über die kulturelle Kolonialisierung des Mittleren Westens. Auch Anne Fogarty verfolgt eine kulturkolonialistische Fragestellung und zeigt, wie Shakespeare als Intertext, künstlerischer Vater und literarischer Rivale für die komplexen Verhandlungen einer irischen Nationalidentität in James Joyces Ulysses fungiert. Die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Odysseus und Telemachus sowie zwischen dem ermordeten Agamemnon und Orestes liefern Vorbilder für das coming-of-age des jungen Hamlet. Erich Freibergers Beitrag zeigt zudem, wie sich die Entwicklung von Hamlets Charakter eng an Platons Darstellung der Suche nach einer Definition des wahren Königs im Politikos orientiert. Doch das Ideal vom Philosophen als Herrscher muss in Shakespeares Stück letztlich der Realpolitik des Fortinbras weichen.
Isabel Karremann
Inhaltsverzeichnis
Anachronic Shakespeare: Homers Welt und die Anamorphose tragischer Ironie (Anselm Haverkamp)
Shakespeare’s Temporal Odysseys (WOLFRAM KELLER)
The Choice to Choose: Female Agency in Troilus and Cressida (LALITHA SARMA R)
Shakespeare and the Settlement of the American Frontier (GRETCHEN MINTON)
“It is this hour of a day in mid June”: Restaging Shakespeare in Joyce’s Ulysses (ANNE FOGARTY)
The Platonic Politics in Hamlet (ERICH FREIBERGER)
Theaterschau
Shakespeare auf deutschsprachigen Bühnen 2021/2022
(Gesamtredaktion: Felix Sprang)
Let’s get drunk on Shakespeare: Die neue Normalität auf den Bühnen in NRW (SARAH BRIEST, MARVIN KRUSE, JAN MOSCH, SARA TUCKWELL, ROLAND WEIDLE UND JAN WILLING)
Lampshading und “Generation-Erbe”-Schelte in Darmstadt: Viel meta im Südwesten (KATRIN BECKER, FELIX SPRANG UND LINA MAXEINER)
Shakespeare auf den Bühnen der deutschsprachigen Schweiz (WERNER BRÖNNIMANN)
Bücherschau
(Gesamtredaktion: Susanne Gruß und Lena Steveker)
Various Shakespeares
Stephen Guy-Bray, Shakespeare and Queer Representation (MARLENA TRONICKE)
Judith Hudson, Crime and Consequence in Early Modern Literature and Law (JESSICA APOLLONI)
Kristine Steenbergh and Katherine Ibbett eds, Compassion in Early Modern Literature and Culture: Feeling and Practice (CAROLINE KÖGLER)
Matthew Steggle, Speed and Flight in Shakespeare (FELIX SPRANG)
Shakespeare and Adaptation
Elisabeth Bronfen, Serial Shakespeare: An Infinite Variety of Appropriations in American TV Drama (tobias döring)
Christina Wald, Shakespeare’s Serial Returns in Complex TV (Emily Louisa Smith)
Richard Ashby, King Lear ‘After’ Auschwitz: Shakespeare, Appropriation and Theatres of Catastrophe in Post-War British Drama (ZENO ACKERMANN)
Jonas Kellermann, Dramaturgies of Love in Romeo and Juliet: Word, Music, and Dance (JULIA HOYDIS)
Shakespeare and Economics
Ben Higgins, Shakespeare’s Syndicate: The First Folio, Its Publishers, and the Early Modern Book Trade (ERIC RASMUSSEN)
Laura Kolb, Fictions of Credit in the Age of Shakespeare (ANNE ENDERWITZ)
European Shakespeares
Lukas Erne and Kareen Seidler eds, “Hamlet” and “Romeo and Juliet”: “Der Bestrafte Brudermord” and “Romio und Julieta” in Translation; Lukas Erne, Florence Hazrat and Maria Shmygol eds, “Titus Andronicus” and “The Taming of the Shrew”: “Tito Andronico” and “Kunst über alle Künste, ein bös Weib gut zu machen” in Translation (RALF BOGNER)
Janet Clare and Dominique Goy-Blanquet eds, Migrating Shakespeare: First European Encounters, Routes and Networks (IMKE LICHTERFELD)
Andrew Hiscock, Shakespeare, Violence and Early Modern Europe (ANJA MÜLLER-WOOD)
Berichte
Tätigkeitsbericht der Präsidentin (Herbst 2022) (Claudia Olk)
“Shakespeares Odysseen”: Jahrestagung in Bochum, 22. – 24. April 2022 (Jonas Kellermann)
“Pericles, Prince of Tyre: Odysseys in/of Shakespeare”: Shakespeare Academy in Bochum, 20. – 24. April 2022 (Lena Kiergmair, Elena Natroshvili, Lea Unterseer, Julia Wagner)
Nachrufe
Werner Habicht (1930–2022)
Nachruf auf Klaus-Peter Steiger (1936–2022)
Zum Gedenken an Ulrich Suerbaum (1926–2022)